Luthers Romreise

Die einzige Quelle für Informationen über das Romerlebnis des Wittenberger Mönchs ist dieser selbst. 1510 reiste Luther nach Rom. Viele Jahre später erst berichtet er darüber.

 

von Walter Kardinal Brandmüller

 

Es war das Rom Papst Julius’ II. (1503-1513). Von ihm meint Ferdinand Gregorovius, dass ihn Deutschland nicht interessiert habe, erst recht nicht ein unbekannter „Wittenberger Mönch, der in Angelegenheiten seines Augustinerklosters nach Rom gekommen war und selbst nicht ahnte, zu welcher welterschütternden Aufgabe er berufen sei. Es war dies ein Mann des Volkes, durch heldenhafte Charakterstärke und feurigen Ungestüm ein ganz ebenbürtiger Zeitgenosse des Papstes Julius“. Dieser allerdings weilte in jenem Jahr 1510/11 außerhalb Roms – die Beiden haben sich nie gesehen.

Da sank er in die Knie: „Sei gegrüßt, heiliges Rom“

Was aber hat der junge Augustiner in Rom wirklich erlebt? Und: Wie hat er es erlebt? Was war das für ein Rom, bei dessen erstem Anblick vom Monte Mario aus der Frater Martinus überwältigt auf die Knie sank und ausrief: „Sei gegrüßt, heiliges Rom“? Liegt etwa in jenem Romerlebnis des Jahres 1510/11 der Schlüssel zum Verständnis dafür, dass gerade ein Jahrzehnt danach dieses „heilige Rom“ für Luther zur „Babylonischen Hure“ und der Papst zum Antichrist geworden war? Das sind die Fragen, die sich fünfhundert Jahre nach dieser Reise stellen.

Als der Bruder Martin und der Bruder, den er begleitete, durch die Porta del Popolo die Stadt betraten, kamen sie in eine aufstrebende Metropole, die sich dank der Tatkraft und dem Mäzenatentum Julius‘ II. der Kultur der Renaissance weit geöffnet hatte. In eben diesen Jahren hatte der Papst das vatikanische Museum begründet, und die Auffindung der Laokoon-Gruppe wie des Apoll von Belvedere ließen die Wogen der Begeisterung für die Antike hochgehen. Große Baumaßnahmen waren im Gange. Am vatikanischen Hügel wurde seit 1507 Konstantins‘ Petersbasilika etappenweise abgebrochen und Bramante arbeitete am Neubau, ebenso wie am Papstpalast bei Sankt Peter. nach dem Tempietto in Montorio hatte Bramante den eleganten Kreuzgang von Santa Maria della Pace neben der „Anima“, der deutschen Nationalkirche, geschaffen und war am Neubau des Chores der Augustinerkirche Santa Maria del Popolo. Zur gleichen Zeit schmückte Raffael die Privaträume des Papstes mit seinen Fresken und Michelangelo erklomm Tag um Tag die Leitern zu seinem Gerüst in der Cappella Sistina.

Nicht weniger als die Künste pflegte man auch die Wissenschaften. Der Ausbau der römischen Universität, einer Gründung Bonifaz‘ VIII., die bisher ein Schattendasein geführt hatte, schritt in diesen Jahren kräftig voran, 1513 zählte sie bereits 68 Lehrstühle. Auch die Lehrmethoden waren neu: Die Professoren waren gehalten, den Stoff ihrer Vorlesungen mit den Studenten zu diskutieren. Eine Druckerei war im Entstehen, die auch griechische und hebräische Werke zu drucken vermochte. Hieronymus Akander – später bekannt als Nuntius in Deutschland – war damals Leiter der nunmehr etwa viertausend Bände zählenden Vatikanischen Bibliothek. Er brillierte durch seine hervorragende Kenntnis des Griechischen und des Latein. Nicht minder rege war das literarische Leben in der von der Antike begeisterten Stadt.

Zugleich hatte Julius II. auch die Verwaltung und die öffentliche Ordnung der Stadt auf einen hohen Stand gebracht, ebenso wie die Fürsorge für die Kranken und Armen. In unserem Zusammenhang interessiert allerdings mehr, wie es denn um das religiös-sittliche Leben in Rom zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bestellt war. Über dieses hat die Geschichtsschreibung ein nahezu einstimmiges Urteil gefällt: Verweltlichung, ungezügelter Luxus, Unsittlichkeit und Frivolität hätten selbst die höchsten Ränge der Gesellschaft wie der Kirche erfasst und verdorben, und der gemeine Mann, Priester und Mönche, seien diesem Beispiel gefolgt.

Der rheinische Ritter Arnold von Harff, der Ende des fünfzehnten Jahrhunderts auf seiner Pilgerreise in den Orient auch durch Italien nach Rom gekommen war, sagt, er habe sich aus Gründen der Schicklichkeit außerstande gesehen, in seinem Tagebuch festzuhalten, was er dort erlebt habe. Ähnlich der gelehrte Generalobere des Karmeliterordens, Baptista Mantuanus. Er meinte, das Gift, das die päpstliche Kurie durchdrungen habe, sei eine der schlimmsten Geißeln der Menschheit.

Das Laster schreit laut, die Tugend ist schweigsam

So viel, so gut. Die beklagten Entartungserscheinungen waren Wirklichkeit. Es ist jedoch zu fragen, wieweit die Kreise waren, die sie gezogen, wie viele Menschen sie erfasst haben. Da nun ergeben sich Zweifel: Wäre jene – man möchte beinahe sagen flächendeckende – vorbildliche Fürsorge für die Kranken und Armen durch zahlreiche Klöster und Bruderschaften, wären die häufigen und würdevoll vollzogenen Ausdrucksformen der Frömmigkeit in einer moralisch durch und durch korrupten Gesellschaft beziehungsweise Kirche möglich gewesen?

Auch sind in dem Italien der Renaissance allein seit dem Pontifikat Alexanders VI. (1492-1503) bis 1510 nicht weniger als achtzehn Männer und Frauen, meist Ordensleute, im Ruf der Heiligkeit gestorben und später kanonisiert worden – von manchen zu schweigen, die zu Luthers Zeiten noch gelebt und erst danach zur Ehre der Altäre erhoben wurden. Ergibt sich in dieser Perspektive nicht eine andere Verteilung von Licht und Schatten auf dem Rom-Bild jener Jahre? Schließlich steht kein Heiliger als ein erratischer Block beziehungslos inmitten einer moralisch-religiösen Wüste. Er steht doch im beständigen Austausch mit jenem Umfeld, aus dem er kommt und in dem er lebt und auf das sein Leben ausstrahlt.

Auch die Hochblüte der religiösen Kunst und Literatur in dieser Zeit gibt zu denken. Schließlich ist auch bei der kritischen Lektüre unserer Quellen, namentlich der historiographischen, eine gewisse Skepsis gegenüber der zeitgenössischen Kirchenkritik angebracht, die wie alle Reformrhetorik gern übertreibt und verallgemeinert. Und: Das Laster schreit immer laut, die Tugend ist schweigsam.

Ein Beispiel vorbildlichen Lebens konnte der Frater Martinus selbst erleben, nämlich den Generaloberen seines Ordens, Frater Egidius Canisius von Viterbo. Ihm musste Luther wohl begegnet sein, wohnte er doch höchstwahrscheinlich im Kloster bei San Agostino, wo der Sitz der Ordensleitung war. In der Person seines Generals trat er einem Mann gegenüber, der zu den großen Geistern seiner Zeit gehörte. Weiter intellektueller Horizont, Eifer für religiöse Erneuerung, für die Wiedervereinigung mit den Griechen, für die Versöhnung zwischen Juden und Christen – das bestimmte das Profil seiner Persönlichkeit. Julius I. schätzte ihn so hoch, dass er ihm die Eröffnungspredigt zum fünften Laterankonzil übertrug. Welchen Eindruck mochte er auf Luther gemacht haben?

Kurzum: Auch das so heftig gescholtene Rom der Renaissance dürfte um ein gutes Stück normal-christlicher gewesen sein, als es seine manchmal allzu empörten Kritiker erscheinen lassen. Eine Antwort auf diese Frage erfordert nämlich sogleich eine weitere: Worauf stützen sich überhaupt unsere Kenntnisse über das „Romerlebnis“ Luthers?

Die einzige Quelle dafür ist er selbst. Und da er weder von Italien aus nach Hause berichtet noch ein Reisetagebuch geführt hat, sind es lediglich seine späteren Erzählungen, denen wir unser „Wissen“ darüber verdanken. Es handelt sich um verstreute Einsprengsel in seinen „Tischreden“. Da aber ergeben sich neue Probleme. Die Überlieferung dieser von Schülern mitgeschriebenen Äußerungen setzt erst mit den dreißiger Jahren des sechzehnten Jahrhunderts ein. Das aber bedeutet, dass sie nur wiedergeben, woran der Hausherr des ehemaligen Augustinerklosters zu Wittenberg sich zwischen Suppe und Braten erinnerte – beziehungsweise sich zu erinnern glaubte. Und man darf nicht vergessen: Zwischen Romreise und Luthers Erzählungen liegen zwanzig bis dreißig Jahre. Damit stehen wir vor einem der Probleme der „oral history“ – was aber bedeutet, dass deren Zeugnisse mit besonderer Vorsicht zu interpretieren sind. Da erscheint denn Vergangenes im Licht der Gegenwart und nicht selten verschwimmen dabei Konturen, werden Versatzstücke der Erinnerung zu neuen Kombinationen zusammengefügt, andere sind längst in Vergessenheit geraten. Vor allem aber ist zu bedenken, dass sich in den zehn Jahren nach seinem „Rom-Erlebnis“ Luthers dramatischer und definitiver Bruch mit seiner katholischen Vergangenheit ereignet hatte – die Ursache für das Zerbrechen der abendländischen Christenheit war. nun, noch einmal zehn Jahre danach und im Lichte des Geschehenen, formuliert Luther seine Erlebnisse und zieht sie zur Begründung und Bekräftigung seiner Absage an Papst und „Rom“ heran. So gerät ihm der Rückspiegel zum Zerrspiegel und im nachhinein „stilisiert Luther seine Reise nach Rom zu einem Schlüsselerlebnis, tut er so, als ob der Bruch mit der katholischen Kirche durch das Rom-Erlebnis entscheidend gefördert worden wäre“. (Michele Battafarano).

Ein trotziger Zertrümmerer erinnert sich

Das aber bedeutet, dass wir heute aus dieser Erzählung Luthers über das Rom der Jahre 1510/11 gewiss keine authentischen Auskünfte erhalten, und nicht einmal darüber, wie er selbst dieses Rom damals erlebt hat. Was wir wirklich erfahren, ist nur, wie der Luther der dreißiger-vierziger Jahre Rom, den Papst und sich selber betrachtet hat.

Da nimmt es denn nicht Wunder, dass er sagt: „Als ich gen Rom zog, da nennete man Rom ‚fontem iustitiae‘, aber ich sahe, dass Rom eine Hure oder ein Hurenhaus war.“ Am Ende meint er, Rom sei der Ort des Antichrists, eine Versammlung von Götzen, Zufluchtsort für Verbrecher, Hochburg der Zauberer und Hexenmeister, Auswurf der Laster, Ansteckungsherd für die Welt, Hammer der Erde, Land der Bitternis, pestbringender Haufen, Werkstatt Satans, Feindin der Stadt Gottes gewesen.

Über seine Ankunft im Jahre 1510 sagt er: „Da ich erst sahe, fiel ich auf die Erde, hub meine Hände auf, und sprach: Sey gegrüßet, du heiliges Rom. Ja rechtschaffen heilig von den Märtyrern und ihrem Blut, dass da vergossen ist.“ Aber dann erkennt er ihr wahres Gesicht: das der Babylonischen Hure aus der Johannes-Apokalypse. „Der Teufel hat den Papst, seinen Dreck, darauf geschissen.“

Und das erzählt der Rektor seinen Schülern und Hausgenossen über sein Rom-Erlebnis. Da ironisiert er seine damalige Frömmigkeit, mit welcher er alle denkbaren heiligen Orte – gewiss vor allem die sieben Hauptkirchen – besucht habe. Auch habe er sich eifrig um alle möglichen Ablässe bemüht und beinahe bedauert, dass seine Eltern noch am Leben waren. Wie gern hätte er sie durch einen Ablass aus dem Fegfeuer befreit! Auch die Heilige Stiege sei er kniend hinaufgestiegen, nur um für den Großvater einen Ablass zu gewinnen. Doch schon damals seien ihm Zweifel gekommen, ob denn all dies auch wahr sei.

Besonders empört sei er über die leichtfertige gotteslästerliche Art gewesen, mit welcher die Priester hastig und gedankenlos ihre Messe heruntergeleiert hätten. Ihm habe man zugerufen „mach voran, mach voran“, damit er den Altar für Andere frei mache. Aus frivolen Reden schloss er nun auf Unglauben und Sittenwidrigkeit. Allenthalten sah er Verworfenheit und Laster. Beim Versuch, eine Lebensbeichte abzulegen, habe er nur unwissende und unfähige Beichtväter angetroffen. Besonders hätten ihn lästerliche Reden über die Messe empört. Merkwürdig, wenn wir an die kaum zu überbietenden Blasphemien denken, die er selbst darüber niederschrieb! Kurzum – dieses Rom war – ist – ein einziger teuflischer Sündenpfuhl. Als alter Mann, der die Brücken zur Kirche längst abgebrochen hatte, rechnete er gnadenlos mit der „Babylonischen Hure“ und dem Antichrist ab.

Über das Rom des Jahres 1510/11 und seine Begegnung mit ihm erfahren wir darüber wenig von ihm, wenn überhaupt etwas. Es ist darum ein müßiges Unterfangen, in all den einzelnen, von Luther erzählten Episoden nach irgendwelchen Hinweisen auf seine spätere Entwicklung zu suchen. Erst recht falsch ist die Annahme, das Erleben des Rom der Renaissance mit all seiner sittlichen Vollkommenheit habe in ihm, dem jungen, idealgesinnten Ordensmann, so tiefe Verwundungen hinterlassen, dass am Ende sein katholischer Glaube daran zerbrochen und er selbst zum trotzigen Zertrümmerer der alten Kirche geworden sei. Von einer solchen Annahme ist die Forschung seit längerem abgekommen. Luther kehrte als treuer und frommer Augustiner nach Erfurt zurück.

Dafür gibt es nun eine Reihe wirklich zuverlässiger Zeugnisse aus seiner Feder. So etwa schreibt Luther noch zwei Jahre nach dem legendären Thesenanschlag 1519, dass ungeachtet berechtigter Kritik an „Rom“ „keine Ursach so groß noch werden mag, dass man sich von derselben Kirche reißen oder scheiden solle…“. Ähnliche Aussagen finden sich auch in Luthers Galater-Kommentar des gleichen Jahres, in dem er die Böhmen – das heißt die Hussiten – wegen ihres Abfalls von der römischen Kirche verurteilt. Auch in einer Predigt von 1516 erklärte er: „… würde man den Häretikern folgen, von denen ein jeder sage, er sei vom Heiligen Geist geleitet, dann gäbe es so viele Kirchen wie Häupter – deshalb wollte Christus nur durch einen Menschen (seine) Gewalt ausüben. Diese aber habe er so sehr gefestigt, dass alle Mächte der Welt und der Hölle nichts wider sie vermögen.“ Klarsichtiger hätte er die Zukunft seiner eigenen Bewegung nicht beschreiben können.

Im Mai 1518 entwarf Luther einen Brief an Leo X. Darin schrieb er: „… Darum, allerheiligster Vater, lege ich mich deiner Heiligkeit zu Füßen und übergebe mich dir mit allem was ich bin und habe… Deine Stimme will ich als Christi Stimme erkennen, der in dir herrscht und redet…“. Stärker konnte es nicht gehen.

Doch dann, im Februar 1519, schreibt er an den Freund Spalatin, Rom habe die Heilige Schrift und die Kirche verwüstet, sein Name solle nun „Babylon“ sein – und erstmals fällt das Wort vom Antichrist – und von der Absicht, dem römischen Gewürm auf den Leib zu rücken.

Vorher hatte man freilich anderes gelesen. Ebenso wie der des Erasmus von Rotterdam, der die Schattenseiten Roms wohl aus noch größerer Nähe als der Augustinermönch kennengelernt hatte, war auch Luthers Glaube dadurch nicht erschüttert worden. Wenn wir dann ab 1519 gleichzeitig schroff einander widersprechenden Äußerungen Luthers über Rom und die Papsttreue und den Protest gegen den Antichristen und die Babylonische Hure begegnen, dann lässt das jedenfalls an heftige innere Konflikte denken, die sich schließlich in der endgültigen Absage an „Rom“ entluden.

Die Reise nach Rom lag da schon ein Jahrzehnt zurück.

Dieser Text ist erstmalig erschienen im Vatikan Magazin 12/2010. Er wurde leicht verändert.