Luther und die Juden

Selbst Mitreformatoren wanden sich nach Luthers antisemitischen Ausfälligkeiten über die Juden ab.

Der Antisemitismus Luthers kann nicht, wie oftmals geschehen, mit einem zeittypischen Antisemitismus gleichgesetzt werden. Die historische Atmosphäre zu Beginn des 16. Jahrhunderts zeichnet sich im Gegenteil dadurch aus, daß die Toleranz gegenüber den jüdischen Gemeinden anstieg.

Auch der christliche Antisemitismus war sich immer der Tatsache bewusst, dass das Christentum selbst ein Derivat des Judentums, eine aus dem Judentum hervorgegangene messianische Bewegung ist. Mit der Zeit aber entfremdeten sich die Christen mehr und mehr von den Juden. Es kam immer wieder zu pogromartigen Zuständen, volkstümliche Prediger hetzten im Umfeld der Kreuzzüge gegen Juden, und obwohl es viele Bischöfe gab, die den Juden zunächst Unterschlupf gewährten, kippte die Stimmung. Das vierte Laterankonzil 1215 beschloss weit reichende Diskriminierungsmaßnahmen gegen das auserwählte Volk.

War also Luther lediglich ein Kind seiner Zeit?

Die antijüdische Stimmung war latent, doch waren aber die Juden nicht zur Gänze rechtlos und ohne Unterstützer. 1515 lehnte beispielsweise der Kaiser die geplante Vertreibung von Juden aus den Städten des Rhein-Main-Gebietes ab. Dem Konvertiten Johannes Pfefferkorn wurden nach wüsten predigten gegen Juden 1513 Predigtverbot erteilt.

Der Humanist Reuchlin vertrat die These, zwischen einer theologischen Bewertung des Judentums und der juristischen Stellung der Juden zu unterscheiden. Die Polemik gegen das Christentum in Verteidigung ihres Glaubens sei ihr gutes Recht; es dürfe nicht dazu führen, ihre rechtliche Gleichstellung vor dem weltlichen Gesetz infrage zu stellen.

Persönlich hatte Martin Luther kaum Berührungspunkte mit Juden. In seiner Heimat lebten sehr viel weniger Juden als im Westen und Süden des Reiches. Vom jungen Luther sind recht wenig antisemitische Äußerungen überliefert, mit zunehmendem Alter jedoch steigerte sich sein Hass auf die Juden; je mehr er sich von der katholischen Kirche entfernte, desto stärker wurde sein Antisemitismus.

Es scheint, das Luther sich in seinem Wandel zum wüsten Antijudaisten stark durch persönliche Betroffenheit leiten ließ. Waren anfangs seine Äußerungen noch von Toleranz geprägt, so drehte er sich im Laufe seines Lebens um 180 Grad.

„Drum sollen wir die Juden nicht so unfreundlich behandeln, denn es sind noch Christen unter ihnen zukünftig und täglich werden, dazu haben sie allein und nicht wir Heiden solche Zusagung, daß allzeit in Abrahams Samen sollen Christen sein, die den gebenedeiten Samen erkennen. … Wer wollte Christen werden, so er sieht Christen so unchristlich mit Menschen umgehen? Nicht also, liebe Christen: man sage ihnen gütlich die Wahrheit, wollen sie nicht, laß sie fahren!” (WA 7, 600) (1521, Auslegung des Magnificats)

Nachdem er 1534 seine Bibelübersetzung veröffentlicht hatte, wurde diese Übersetzung mehrfach von Experten, d.h. Dozenten für Hebräisch, die zumeist Konvertiten waren, kritisiert. Er selber verfügte nur über mangelhafte Hebräisch-Kenntnisse, konnte aber nicht zugeben, dass er in seiner Übersetzung Fehler gemacht hatte. Grammatische Bedenken fegte er vom Tisch. Die Kritik an seiner Übersetzung traf Luthers Narzissmus stark und trug nicht unwesentlich zur seiner Haltung gegenüber den Juden bei.

Immer wieder hofft er, dass auch er die Juden bekehren kann und betont die Notwendigkeit der Judenmission. Die Juden behandelt er bloß als Bekehrungsobjekt. Dabei unterliegt er aber einer Selbsttäuschung. Sein Protestantismus ist vom Judentum weiter entfernt, als es der katholische Glaube je war. Im Judentum steht die peinlich genaue Einhaltung von Gottes Geboten im Mittelpunkt, wodurch der Mensch zum gerechten wird. Die katholische Lehre kombiniert Werke und glaube. Und bei Luther ist es „sola fide“, der Glaube allein, der selig macht, der dem Menschen allein durch Gottes Gnade, „Sola gratia“ gewährt wird. Einem gelehrten Juden muss auch Luthers „sola scriptura“ als verwegen und absurd erscheinen.

Seine Hoffnung, dass die Reformation die Juden zur Konversion bewegen würde, hat sich nicht bewahrheitet. Aus der Frustration darüber entsteht sein aggressiver Antisemitismus. Seine wüsteste Schrift über die Juden ist das antijudaistische und protoantisemitische Pamphlet „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 1543. Darin verteufelt er das Judentum theologisch gänzlich, um anschließend die Vertreibung der Juden aus allen protestantischen Gebieten zu fordern.

Luther veröffentlichte 16 Schriften, die sich mit den Juden beschäftigen:

1514               Brief an Spalatin zu Johannes Reuchlin (WA Briefe 1, Nr. 7, S. 23–30)

1513–1515     Erste Psalmenvorlesung (WA 3, S. 11–4, S. 462)

1516               Römerbriefvorlesung (WA 56)

1519               Sermon zur Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2, S. 136–142)

1521               Lobgesang der heiligen Jungfrau Maria, genannt das Magnificat (WA 7, S. 601 ff.)

1523               Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (WA 11, S. 314–336)

1523               Ein Sermon an dem Jahrestag von der Beschneidung der Juden (WA 12, S. 400–407)

1525               Ein Sermon von des jüdischen Reichs und der Welt Ende (WA 15, S. 741–758)

1526               Vier tröstliche Psalmen an die Königin von Ungarn (WA 19, S. 542–615)

1530               Brief zur liturgischen Gestaltung von Judentaufen (WA Briefe 5, S. 452,1–28)

1537               An den Juden Josel (WA Briefe 8, Nr. 3157, S. 89–91)

1538              Wider die Sabbather an einen guten Freund (WA 50, S. 312–337)

1543              Von den Juden und ihren Lügen (WA 53, S. 417–552)

1543              Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi (WA 53, S. 579–648)

1543              Von den letzten Worten Davids (WA 54, S. 28–100)

1546              Eine Vermahnung wider die Juden (WA 51, S. 195f)

In der Schrift „von den Juden und ihren Lügen“ macht er sich alle altbekannten Klischees des mittelalterlichen Judenhasses zu eigen; u.a. behauptet er, die Juden seien tatsächlich Brunnenvergiftung und Kindesentführer, und selbst wenn ein Vor Wurf nicht zuträfe, so seien sie doch zumindest „bereit dazu“. Die Schrift ist getragen von unerträglicher und hasserfüllter Hetze gegen den jüdischen Glauben und das jüdische Volk. In einem 7-Punkte-Programm proklamiert er, wie man sich der Juden entledigen solle: Niederbrennen aller Synagogen, Zerstörung ihrer Häuser und Einpferchung in Baracken, Beschlagnahmung jüdischer Schriften, Todesstrafen für Rabbiner, Internierung, Enteignung und Zwangsarbeit.

Karl Jaspers kommentierte dies wie folgt: „Was Hitler getan, hat Luther geraten, mit Ausnahme der direkten Tötung durch Gaskammern.“

Eine weitere, noch widerwärtigere Entgleisung ist Luthers Pamphlet „Vom Schem Hamphorasch“,  in dem er das Allerheiligste des Judentums, den Namen Gottes buchstäblich in den Dreck zieht, und dass damit den absoluten Tiefpunkt des lutherischen Fäkalantisemitismus darstellt. Dieses Pamphlet führte dazu, dass sich andere Reformatoren wie Heinrich Bullinger aus Zürich, Martin Butzer aus Straßburg und Andreas Osiander aus Nürnberg angewidert von diesem Schriftstück distanzierten.

Folgen des lutherischen Antisemitismus

Der Antisemitismus Luther prägte für die nächsten 400 Jahre das Juden Bild des Protestantismus und damit Millionen von Gläubigen. Über Jahrhunderte hinweg wurde Luther zum neuen Propheten der Deutschen und Nationalheiligen hochstilisiert und jede kritische Reflexion zum Sakrileg erklärt. Seine antisemitischen Ausfälle wurden salonfähig. Speziell antisemitische Rassentheorien fanden im protestantischen Milieu im 19. Jahrhundert schnell ihr Publikum. Auf diesem Nährboden wuchs auch der Nationalsozialismus. Nachdem im Zweiten Deutschen Reich der Protestantismus zur Staatsreligion geworden war, zeigten sich evangelische Christen anfälliger für nationalistische und antisemitische Propaganda. Es waren die Protestanten, die Hitler im Jahr 1933 zur Macht verhalfen. ZU diesem Schluss kommt auch der Kriminologe Christian Pfeiffer in seinem Artikel „Judenfeind Luther. Die dunkle Seite des Reformators“ vom Juli 2014 in der Zeitschrift Cicero.

Und im Jahr 1938 wurde das ausfällige Pamphlet Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ unter dem Titel „Martin Luther und die Juden – Weg mit ihnen!“ neu herausgegeben. Der evangelisch-lutherische Landesbischof von Eisenach, Martin Sasse, schrieb im Vorwort:

 „Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. Vom deutschen Volk wird … die Macht der Juden auf wirtschaftlichem Gebiet im neuen Deutschland endgültig gebrochen und damit der Gott gesegnete Kampf des Führers zur völligen Befreiung unseres Volkes gekrönt. In dieser Stunde muss die Stimme des Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert einst als Freund der Juden begann, der getrieben von seinem Gewissen, getrieben von den Erfahrungen und der Wirklichkeit, der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der war seines Volkes wieder die Juden.“

Die Evangelische Kirche Deutschlands distanzierte sich im Jahr 2015 vom Antisemitismus Luthers.

Den Vortrag von Michael Hesemann: „Luther und die Juden“ bei der Sommerakademie „Das Gottes- und Menschenbild Martin Luthers“ der Gustav-Siewerth-Akademie im August 2016 finden Sie hier als Video.