Die Rechtfertigungslehre Martin Luthers

Von Andreas Theurer

Zum Kernbestand des protestantischen Glaubens gehörte von Anfang an die Überzeugung, allein von Christus, allein aus Gnade und allein aufgrund unseres Glaubens gerettet zu werden, bis heute auch populär unter den lateinischen Schlagworten „solus Christus“, „sola gratia“ und „sola fide“. Diese drei zentralen Begriffe wenden sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Irrtümer.

Allein Christus – allein aus Gnade – allein der Glaube

Das „solus Christus“ bestreitet, dass der Mensch zu seiner Errettung etwas beitragen kann. Allein Christus hat uns unser Heil bewirkt. Sein Kreuzesopfer auf Golgota ist vollständig und völlig ausreichend für die Errettung aller Menschen. Es muss vom Menschen nichts hinzugefügt werden.

Das „sola gratia“ betont, dass die erbarmende Zuwendung Gottes zum Menschen allein aus Gnade geschieht, dass der Mensch also nicht durch vorausgehende gute Werke oder besondere Frömmigkeit sich einen Anspruch auf das ewige Heil erwerben kann. Man kann es durch nichts verdienen!

Das „sola fide“ wiederum bekennt, dass die einzige Voraussetzung für die tatsächliche Zuwendung des Heils (also die „Rechtfertigung“ und als deren Folge die ewige Seligkeit) allein der Glaube ist, also ebenfalls nicht unsere guten Werke oder unsere Frömmigkeit, aber auch nicht der bloße Empfang von Sakramenten (ohne Glaube).

Diese drei Begriffe markieren somit die Eckpunkte der wichtigsten protestantischen Lehre, der sogenannten „Rechtfertigungslehre“. Allen diesen drei Zentralaussagen kann aus katholischer Sicht (und in katholischer Interpretation!) grundsätzlich zugestimmt werden. Das wurde zuletzt deutlich durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, die 1999 in Augsburg von Vertretern des Papstes und des Lutherischen Weltbunds unterzeichnet wurde. Im Detail bleiben freilich noch Unterschiede und offene Fragen, die aber heute als „nicht mehr kirchentrennend“ angesehen werden.

Es handelt sich hier um besonders schwierige und komplizierte Themen, die unmöglich auf zwei Seiten umfassend dargestellt werden können. Die folgenden Anmerkungen können daher nicht mehr als eine grobe Skizze der Problematik sein.

Was trägt der Mensch zu seiner Erlösung bei?

Ungeklärt bleibt zwischen den Konfessionen weiterhin, wie die Mitwirkung des Menschen an seiner Erlösung zu verstehen ist. Ist der Mensch durch die Erbsünde so gründlich verdorben, dass er von sich aus nicht einmal mehr die Offenheit für das Evangelium haben kann (so die lutherische Auffassung)? Oder verblieb im Menschen auch nach dem Sündenfall noch wie ein Funke die Sehnsucht nach Gott und damit auch die Möglichkeit, einen kleinen Schritt auf Gott zuzugehen (so die altkirchliche und damit auch katholische Lehre)?

Gibt es hier ein Zusammenwirken von Gott und Mensch („Synergismus“), das sozusagen zur Bedingung dafür wird, dass Gott den Menschen erlösen kann? Wie radikal muss man sich an den Kirchenvater Augustinus anschließen, der gegen Pelagius und seine Anhänger daran festhielt, dass der Mensch aus eigener Kraft den Glauben weder erfassen noch bewahren kann – beides ist vielmehr Geschenk der Gnade Gottes? Gilt das im strengen Sinne, so dass der Mensch wirklich gar nichts beiträgt, zu seiner Erlösung (so Luther), oder würdigt Gott den Menschen gewissermaßen der Teilnahme an seiner eigenen Erlösung? Immerhin hat derselbe Augustinus auch folgenden Satz geprägt, der die katholische Sicht der Rechtfertigungslehre schön zusammenfasst: „Gott, der uns ohne uns erschaffen hat, wollte uns nicht ohne uns erlösen“.

Gerecht gemacht, oder nur gerecht gesprochen?

Verschiedene Akzente werden auch auf die Frage gelegt, ob der Mensch durch die Gnade Gottes gerecht gemacht oder nur gerecht gesprochen wird. Wird also der Mensch durch die Versöhnung mit Gott durch Taufe und gegebenenfalls Bußsakrament wieder ganz heil und sündlos, oder wird er von Gott im Endgericht nur so behandelt, als wäre er sündlos, obwohl er bis zuletzt immer „simul iustus et peccator“, also Gerechter und Sünder zugleich ist? Dies wäre aus katholischer Sicht problematisch. Kann ein Mensch, der sich konsequent der Formung durch den Heiligen Geist hingibt, leben, ohne bewusst zu sündigen, oder ist das dem Menschen seit dem Sündenfall prinzipiell unmöglich, und wenn er sich noch so sehr darum bemüht? Kann der Mensch durch die Kraft der Sakramente und ein tugendhaftes Leben heilig werden, oder wird er allenfalls dadurch heilig, dass Gott ihn im Endgericht trotz all seiner Sünden frei spricht, weil er sein Vertrauen auf Christus gesetzt hat, der allein und aus Gnade jeden rechtfertigt, der an ihn glaubt?

Die protestantische „Heilsgewissheit“

Kann man sich als auf diese Weise Glaubender darauf verlassen, in den Himmel zu kommen, weil es ja nicht auf die Qualität meines Glaubens, sondern auf das auf jeden Fall ausreichende Verdienst Christi ankommt? Aus diesem Gedanken leiten Anhänger der meisten protestantischen Richtungen ihre „Heilsgewissheit“ ab. Sie meinen, wer sein Vertrauen auf Christus setzt, wird von ihm durch das Gericht Gottes hindurchgerettet und kann sich daher seines Heiles schon auf Erden wirklich gewiss sein. Natürlich vertrauen auch wir Katholiken auf Gottes Barmherzigkeit und auf die Heilstat Jesu Christi. Die katholische Theologie dagegen misst dem freien Willen des Menschen viel mehr Bedeutung bei als die protestantische und rechnet daher damit, dass der Glaubende sich Gott nur ungenügend zuwenden oder sogar wieder von Gott abwenden kann und somit das endzeitliche „Gericht nach den Werken“ möglicherweise auch zu einem anderen Urteil kommt.

Gute Werke und ewiger Lohn

Einigkeit besteht also darin, dass der Mensch sich sein Heil nicht in dem Sinne verdienen kann, dass er gegen Gott einen Anspruch darauf erwerben könnte. Uneinigkeit bleibt darin, ob die Mitwirkung des Menschen an seiner Erlösung gleich null oder doch von gewisser Bedeutung ist. Freilich wird der Mensch nach katholischer Lehre auch zu einer solchen Mitwirkung erst durch die Gnade Gottes befähigt. Durch diese Gnade kann er sogar gute Werke tun und sich dadurch ewigen Lohn (nicht das Heil selbst!) verdienen, was für Lutheraner ebenfalls nicht annehmbar ist.

Die Frage nach den guten Werken ist ohnehin für Protestanten eine recht heikle. Der einflussreiche Theologe Nikolaus von Amsdorf (1483-1565) verstieg sich sogar zu der Behauptung, gute Werke seien schädlich zur Erlangung des Seelenheils, weil sie den reinen Geschenkcharakter des Heils verdunkelten! Auch wenn das eine sehr extreme Meinung war, die sich im Luthertum keinesfalls durchsetzte, so zeigt sie doch beispielhaft, wie misstrauisch man aus reformatorischer Perspektive alle menschliche Mitwirkung am Heil betrachtete. Gerechterweise muss hinzugefügt werden, dass in allen Hauptströmungen des Protestantismus der geistliche Schwerpunkt nicht nur auf das richtige Glauben gelegt, sondern auch das Tun guter Werke als eine notwendige Antwort des Menschen auf Gottes vorauslaufende Gnade betrachtet und auch praktiziert wird, ganz entsprechend der Mahnung des Apostels Jakobus: Glaube ohne Werke ist tot (Jak 2,26).

Was steht dazu eigentlich in der Bibel?

Zwar ist die Meinung weit verbreitet, die evangelische Rechtfertigungslehre entspräche auch der Lehre des Apostels Paulus. Wenn man aber dessen Briefe im Zusammenhang liest und mit den übrigen Schriften des Neuen Testaments vergleicht, wird deutlich, dass er nirgends die Meinung vertritt, dass der Mensch ohne eigenes Zutun gerecht wird.

Auf protestantischer Seite bezieht man sich gern auf Röm 3,28, wo in der Lutherübersetzung steht, dass der Mensch „allein aus Glauben“ gerettet wird. Freilich ist genau dieses „allein“ eine eigenmächtige Hinzufügung durch Luther, der meinte, auf diese Weise die eigentliche Absicht des Paulus verdeutlichen zu müssen, obwohl es in keiner Version des Urtextes enthalten ist! Der bei Paulus so häufige Gegensatz von Glauben und Werken (Röm 3,20.28; 4,2-8; 9,32; 11,6; Gal 3,2-5; Eph 2,8-9; Tit 3,5) bezieht sich jedoch auf die Gesetzesreligion des Alten Bundes, nicht auf die Frömmigkeitsregeln und Glaubenspflichten der Christen! Paulus warnt uns natürlich vor jedem Versuch der Selbsterlösung nach dem Motto: Gott muss mich in den Himmel lassen, weil ich so gut bin. Aber er warnt uns ebenso davor, auf Gottes Erlösungswirken unsere menschliche Antwort zu verweigern. Wenn wir beispielsweise Röm 2,7.13, 13,11-14; Kol 1,10; Tit 3,8.14 lesen, zeigt sich, dass Paulus großen Wert auf die guten Werke legte und es sogar als heilsnotwendig ansah, Gutes zu tun und Böses zu lassen. Dass Gott den Menschen ganz ohne dessen Mitwirkung erlöst, steht in keiner dieser Bibelstellen. Somit ist die Lehre des Paulus ganz die katholische.

Zusammenfassung und Ausblick

Was 1517 Anlass gab zum Ausbruch der Reformation, also der Ablasshandel und die Frage, wie man einen gnädigen Gott bekommt, diese Fragen sind einvernehmlich geklärt. Auf Ablasshandel steht in der katholischen Kirche seit dem Trienter Konzil die Strafe der Exkommunikation. Dass der Mensch durch gute Werke sich das Heil nicht verdienen kann, ist ebenfalls schon lange innerkatholischer Konsens. Und dass im Wesentlichen in dieser Frage ein Konsens mit der protestantischen Theologie besteht, wurde durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 auch offiziell kundgetan. – Ich meine also: Was 1517 von Luther zu Recht beanstandet wurde, ist katholischerseits in Ordnung gebracht. All das, was uns leider immer noch trennt, sind Fragen und Probleme, die erst im Verlauf der Reformation selbst dazugekommen sind. Ihnen sollen sich die nächsten Folgen dieser Serie widmen.

 

Der Artikel ist veröffentlicht in der Zeitschrift Kirche heute Nr. 7/Juli 2016. Er wurde leicht gekürzt.