Christ und Gesellschaft

Die „Obrigkeitshörigkeit“ der Protestanten

Die Aufgabe des Weihepriestertums durch die Reformation führte zur Abschaffung des bischöflichen Amtes. Damit stellte sich für die Protestanten die Frage nach der kirchlichen Autorität. Luther übertrug die gesamte Verantwortung für das Leben der Kirche den jeweiligen Landesherren. Diese weitreichende Entscheidung wirkt sich bis auf den heutigen Tag aus.

Von Andreas Theurer

Die „neuen Lehren“ Martin Luthers führten zu einem völlig neuen Verhältnis zwischen Staat und Kirche bzw. zwischen Christ und Gesellschaft. Deshalb werden häufig negative politische Entwicklungen der Neuzeit den Kirchen der Reformation zur Last gelegt. Zum Beispiel wird oft der Judenhass des späten Luther mitverantwortlich gemacht für den Antisemitismus des Dritten Reichs oder das protestantische Staatskirchentum für die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen. (Freilich war Luthers Antijudaismus nur gegen die jüdische Religion gerichtet, nicht – wie bei den Antisemiten – gegen die „Rasse“!) Andererseits gilt die Reformation, insbesondere das moderne protestantische Synodalsystem vielen als großer gesellschaftlicher Fortschritt oder sogar als Vorbote der Demokratisierung.

In der Tat hat sich im Protestantismus ein deutlich anderes Verhältnis zwischen dem einzelnen Christen und seiner Obrigkeit entwickelt als im Katholizismus. Ich möchte versuchen, die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung grob zu skizzieren. Wichtige Stichworte sind in diesem Zusammenhang das „Landesherrliche Kirchenregiment“ und die „Zwei-Reiche-Lehre“. Auch die völlig andere Bewertung des „gottgeweihten Leben“ spielt für die unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklung in beiden konfessionellen Systemen sicherlich eine Rolle.

Das „Landesherrliche Kirchenregiment“

Das „Landesherrliche Kirchenregiment“ bezeichnet die Sonderform der Kirchenleitung, die seit der Reformation in allen protestantischen Gebieten üblich wurde: Anders als in Schweden und England, wo die Könige lutherische bzw. anglikanische Bischöfe installierten, haben die deutschen evangelischen Fürsten das nicht zugelassen, sondern – entgegen Luthers Hoffnung – nach und nach die Kirchenleitung für sich selbst beansprucht. Die zum neuen Glauben übergetretenen Landesherren traten somit an die Stelle der in ihrem Herrschaftsgebiet entmachteten Bischöfe und übernahmen also nicht nur die Einsetzung und Besoldung der Pfarrer, sondern auch die Festlegung, welche Theologie an ihren Universitäten gelehrt werden sollte und welchem Bekenntnis ihre Untertanen zu folgen hatten. Ab dem 18. Jahrhundert, als der Konfessionswechsel ganzer Territorien nicht mehr durchsetzbar war, kam es sogar immer wieder vor, dass zum Katholizismus konvertierte Herrscher weiterhin nominell die Kirchenleiter ihrer protestantischen Staaten blieben, auch wenn sie die praktische Durchführung dieser Aufgabe einem „Konsistorium“, also einer Oberkirchenbehörde, übertragen mussten.

Folgen der Unterwerfung

Diese protestantische Verbindung von Thron und Altar verwirklichte somit all das, wogegen die Kirche im Investiturstreit im Hochmittelalter so leidenschaftlich gekämpft hatte. Sie bedeutete die völlige Unterwerfung der Kirche unter die Fürsten und ihre Vereinnahmung zu den Zwecken und Zielen der jeweiligen Regierung. Die Nachwirkungen dieser Haltung können bis heute in den vielen Konflikten zwischen der christlichen Lehre und der Mehrheitsmeinung beobachtet werden.

Synoden wählen Kirchenpräsidenten

Als in Deutschland mit der Revolution von 1918 die Personalunion von Fürst und evangelischem „Bischof“ zerbrach, standen die Protestanten vor einer großen Herausforderung. Seither wählen ihre Synoden Kirchenpräsidenten, die teilweise auch den Titel „Landesbischof“ führen. Dennoch ist ihre Machtposition bei weitem nicht mit der eines katholischen Bischofs vergleichbar. Ihre Stellung in der Kirche ähnelt mehr der des Bundespräsidenten in Deutschland. Die oberste Leitungsvollmacht in einer protestantischen Landeskirche liegt bei den Synoden, die in der Regel zu einem Drittel aus Pfarrern und zu zwei Dritteln aus Laien (die zum allergrößten Teil auch keine theologische Ausbildung haben) bestehen, die ihre Entscheidungen demokratisch fällen und dabei sogar tiefgreifende Änderungen der Lehre oder Praxis beschließen können (wie z.B. die Einführung der kirchlichen Trauung für gleichgeschlechtliche Paare!). Dass die Kirchenleitung in allen protestantischen Gemeinschaften also nicht bei den Bischöfen liegt sondern bei demokratisch gewählten Gremien, ist sicherlich der gravierendste Struktur-Unterschied zu den Kirchen altkirchlichen Modells.

Die „Zwei-Reiche-Lehre“

Früher war für die Lutheraner auch die „Zwei-Reiche-Lehre“ von großer Bedeutung. Demnach gibt es unter der Herrschaft Gottes „ein Reich zur Rechten“ und ein „Reich zur Linken“. Im „Reich zur Rechten“ regiert die Kirche. Sie verkündet das Wort, reicht die Sakramente, fördert die Bekehrung der Menschen und übt – wo nötig – Kirchenzucht (also z.B. öffentliche Buße, Ausschluss vom Abendmahl, Verwehrung eines christlichen Begräbnisses usw.). Im „Reich zur Linken“ herrscht der Staat. Nach Kapitel 13 des Römerbriefs ist der Christ verpflichtet, dem Staat zu gehorchen (egal ob Monarchie, Republik oder Diktatur), denn „alle Obrigkeit ist von Gott“ und sie hat das Recht und die Pflicht, das Schwert zu führen, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Wenn man eine schlechte Regierung hat, ist das nach dieser Ansicht eine (verdiente) Strafe Gottes und auch einer solchen Obrigkeit muss man gehorchen. Wer als Christ das Rechte tut, braucht die Obrigkeit nicht zu fürchten. Und wenn es eine Regierung ist, die ungerecht handelt, dann wird Gott den Machtmissbrauch strafen. Der Untertan aber hat nicht das Recht zur eigenmächtigen Auflehnung oder gar Revolution. Wie ernst Luther diese Unterscheidung nahm, hat er 1525 im Bauernkrieg unmissverständlich deutlich gemacht, als er sich in gröbsten Worten gegen den gewalttätigen Aufstand der Bauern wandte und die Fürsten zum rücksichtslosen Durchgreifen gegen sie aufforderte. Die „Zwei-Reiche-Lehre“, die – vor allem im Luthertum – zu einem weitgehend unpolitischen Christentum geführt hatte, wurde in den letzten Jahrzehnten freilich weitgehend in den Hintergrund gedrängt. An ihre Stelle trat als breiter innerprotestantischer Konsens eine Haltung, die das politische Engagement der Christen und ihre bewusst vom Glauben inspirierte Einflussnahme auf die Politik anstrebt.

Geringschätzung des gottgeweihten Lebens

Eine weitere wichtige gesellschaftliche Umorientierung brachte der Protestantismus in Bezug auf die Wertschätzung des geistlichen und des weltlichen Standes.

Während für die altkirchliche Tradition die Abwendung von der Welt und der Eintritt in einen Orden sowie die Ehelosigkeit um des Himmelreichs willen hohe Wertschätzung genossen und als besonderes Charisma angesehen wurden, konnte der Protestantismus bis vor wenigen Jahrzehnten mit diesen scheinbar nutzlosen, unproduktiven und schöpfungswidrigen Lebensformen gar nichts anfangen. Für die Reformatoren war es die Aufgabe des Menschen, in seinem jeweiligen Stand der Gesellschaft zu dienen: als Adeliger, als Prediger oder als Bauer (bzw. Handwerker oder Arbeiter), sowie in all diesen Ständen als Vater oder Mutter. Der Verzicht auf die Ehe galt ihnen als unnatürlich und ein Leben in Kontemplation als unnütz.

Wirtschaftliche Produktivität als Christenpflicht

Eine Religion, die in Einheit mit der Staatsideologie Arbeit als Form des Gottesdienstes und Produktivität als Bürgerpflicht lehrt, kann in der Tat als die wesentliche Ursache eines wirtschaftlichen und bildungsmäßigen Vorsprungs der protestantischen Gebiete vor den katholischen und orthodoxen anerkannt werden, der sich seit der Zeit der „Aufklärung“ überall auf der Welt und natürlich auch in Deutschland deutlich abzeichnete. Die Abschaffung der Klöster, aller Wallfahrten, der meisten Feiertage und nach und nach aller Wochengottesdienste und die Verwendung der damit gewonnen Zeit und Menschen für die Volkswirtschaft, nicht zu vergessen die viel größere Sparsamkeit im Bau und in der Ausstattung der Gotteshäuser, bewirkten einen entsprechenden Aufschwung, der bis in unsere Zeit auch im Ortsbild von katholischen und evangelischen Dörfern erkennbar war.

Unterschiedliche Akzentsetzung in der katholischen Kirche

Die katholische Kirche hat in den letzten zwei Jahrhunderten große Anstrengungen unternommen, den Bildungsrückstand der katholischen Völker aufzuholen. In vielen Teilen der Welt ist dies auch gelungen und katholische Schulen genießen hohe Anerkennung. Anders als im Calvinismus oder in manchen Freikirchen kann aber ein Katholik nie auf die Idee kommen, wirtschaftlicher Wohlstand wäre ein Zeichen für die Auserwählung durch Gott.

Die evangelischen Werke der Diakonie und Mission wurden stets von bewundernswerter Opferbereitschaft und unermüdlichem Einsatz getragen. Aber auch in Zukunft werden wohl gläubige Katholiken im Durchschnitt mehr Zeit, Kraft und Geld als fromme Protestanten in solche Werke der Frömmigkeit investieren, die nicht zuerst dem Nächsten, sondern „nur“ Gott und der Kirche dienen. Nach katholischem Glauben sind freilich auch diese Güter gut angelegt.

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Dieser Artikel erschein erstmals in der Zeitschrift „Kirche heute“ im November 2016.